Was kann uns die Architektur der 1920er-Jahre heute noch lehren? Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von degewo führt Architekt Christoph Rasche durch den Schillerhof und das Englische Viertel im Berliner Ortsteil Wedding. Erfahren Sie, was die Wohnsiedlungen ausmacht und entdecken Sie die Geschichte(n) dahinter.
Christoph Rasche nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Zeit und führt uns zu den Anfängen von degewo. Als passionierter Architekt beim degewo-eigenen Planungsbüro bauWerk und Geschichtsinteressierter verbindet er die baulichen Entwicklungen des Schillerhofs und des Englischen Viertels mit den gesellschaftlichen Veränderungen der 1920er-Jahre. Im Interview spricht er über die Bedeutung von Architektur als Spiegel der Gesellschaft und teilt den ein oder anderen überraschenden Einblick aus seinen Führungen.
degewo | Herr Rasche, anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von degewo haben Sie spannende Architekturführungen durch den Schillerhof und das Englische Viertel organisiert. Wir waren dabei, es war wirklich unterhaltsam und lehrreich! Es ging neben Architektur auch viel um Geschichte. Eine degewo-Kollegin hat uns verraten, dass Sie Geschichte studiert hätten, wäre es nicht Architektur geworden. Warum?
Christoph Rasche | Ich finde, das liegt auf der Hand, Architektur und Geschichte haben viel gemeinsam. Die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln sich in der Architektur wider und zeigen gesellschaftliche Entwicklungen. Das kann man besonders gut an den Wohnsiedlungen der Moderne ablesen. Die sozialreformistischen Ideen der 1920er-Jahre und der Weimarer Republik sind darin sichtbar, es sind gebaute Verhältnisse und Veränderungen.
Was bedeutet das genau, sozialreformistisch?
Die sozialreformistischen Ideen dieser Zeit zielten darauf ab, dass Leben der Menschen zu verbessern und soziale Ungleichheiten zu verringern. In der Architektur bedeutete das vor allem die Schaffung von Wohnraum, der gesund, erschwinglich und funktional war. Es ging darum, die beengten, unhygienischen Lebensbedingungen der Gründerzeit zu überwinden und den Menschen mehr Licht, Luft und Platz zu bieten.
Das zeigt sich im Schillerhof (erbaut 1925–27) und im Englischen Viertel (erbaut 1927/28) des Architekten Erich Glas sehr gut.
Genau, im Schillerhof beispielsweise war die Dichte der Bebauung deutlich geringer und betrug nur fast ein Viertel der Gründerzeitquartiere. Das hat zum Teil Gartenstadtqualität! Dort ist es sehr grün und jede Wohnung ist nach zwei Seiten ausgerichtet. Man kann gut durchlüften, die Sonne scheint bis in die Erdgeschosswohnungen, und die Außenanlagen sind großzügig und kinderfreundlich. Im Englischen Viertel war es eher die Technik, wie die zentrale Fernheizung und die Bäder mit warmen Wasser, die den Wohnkomfort erhöhten.
Wenn Sie sich entscheiden müssten: Wohnkomfort durch Technik oder durch Grundriss – was finden Sie am interessantesten?
Für meine Arbeit als Architekt ist es eher der Grundriss. Ein durchdachter Grundriss schafft die Basis für ein angenehmes Wohnen. Technik kann diese Basis verbessern, aber sie nicht ersetzen.
Das zeigt sich auch deutlich in unseren historischen Bauprojekten, die fast so alt sind wie degewo selbst. Das 100-jährige degewo-Jubiläum ist auch Anlass Ihrer Führungen. Gibt es etwas, das die Teilnehmenden dabei besonders überrascht?
Viele waren überrascht über den riesigen Heizraum im Innenhof und darüber, dass es Menschen gab, die die Heizungen am Laufen hielten. Diese „Heinzelmännchen“ im Hintergrund wurden oft vergessen. Auch die Hausmeister haben eine wichtige Rolle, die oft übersehen wird.
Können heutige Architekturprojekte noch von den Bauprojekten der 1920er-Jahre lernen?
Die Herausforderungen im Wohnungsbau haben sich ja seitdem nicht wesentlich verändert. Für uns spielt es auch heute noch eine wesentliche Rolle, dass der neugeschaffene Wohnraum bezahlbar ist. Trotzdem legen wir bei degewo auch Wert auf die architektonische Qualität unseres Wohnraums.
Lassen Sie uns einen Blick in die jüngere Vergangenheit werfen: In den zehn, fünfzehn Jahren hat sich in der Stadtentwicklung einiges getan. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?
Seit meiner ersten Führung 2011 haben wir uns bei degewo auf Neubauprojekte konzentriert, um dem Wohnungsmangel entgegenzuwirken. Berlin boomt seit eineinhalb Jahrzehnten, dadurch sind natürlich auch die Mieten gestiegen. Wir haben versucht, mit Wohnungsneubau und der Weiterentwicklung unserer Bestände gegenzusteuern. Mittlerweile hat sich Berlin zu einer europäischen Großstadt entwickelt. Das hat an manchen Stellen zwar auch dazu geführt hat, dass die Stadt ein wenig an Charme verloren, aber zugleich an Weltoffenheit gewonnen hat.
Wir sind degewo. In Berlin. Für Berlin. Seit 100 Jahren
Damit unsere Wohnungen und Quartiere nicht nur Aufenthaltsort, sondern Heimat sind, arbeiten jeden Tag engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei degewo daran, Berlin lebenswerter zu machen. Und das seit mittlerweile 100 Jahren.
Apropos Wohnungsneubau: Auch hier ist nicht alles neu, es gab in den letzten Jahren beispielsweise ein Revival des seriellen Bauens. Was sind Ihre Gedanken dazu und welche Bauweisen sind derzeit noch im Trend?
Das serielle Bauen, also das Bauen mit vorgefertigten Bauteilen, wurde schon in den 1920er-Jahren genutzt, um den dringenden Wohnraumbedarf zu decken und das Bauen zu beschleunigen. Heute erlebt es eine Renaissance, vor allem aufgrund der Effizienz und der Kostenvorteile, die es bietet. Außerdem steht der Holzbau im Fokus, auch um CO2 einzusparen und den Nachhaltigkeitsgedanken voranzutreiben. degewo mischt da kräftig mit. Auch am Schumacher Quartier am ehemaligen Flughafen Tegel werden wir von Beginn an dabei sein. Dort soll Europas größte Wohnsiedlung aus Holz entstehen.
Lassen Sie uns noch einmal kurz über Ihre Stadtführungen sprechen. Was hat Sie eigentlich dazu bewegt, Ihre Führungen zu organisieren?
Für meine Arbeit ist es wichtig zu wissen, für wen ich arbeite. Der geschichtliche Hintergrund hilft, sich mit der Arbeit zu identifizieren. Das Wissen um die Strukturen und Leistungen der Vergangenheit motiviert und schafft ein „Wir-Gefühl“ im Unternehmen.
Das war auch unser Eindruck bei der Führung. Die Mitarbeitenden waren begeistert und kamen auf einen gemeinsamen Nenner, egal, ob sie in der Zentralen Kundenberatung arbeiten oder im Controlling.
Ja, ich habe auch viel positives Feedback bekommen. Je mehr man über das eigene Unternehmen weiß, desto einfacher ist es, ein „Wir-Gefühl“ zu entwickeln, was positiv für das Team ist.
Das ist ein schönes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch!