Anne Lampen ist Architektin in Berlin. Im Interview mit stadtleben spricht sie über das Bauen heute, über den Umgang mit alten Beständen und warum degewo mit 100 Jahren Erfahrung im bezahlbaren Wohnungsbau ein perfekter Partner für ein besonderes Projekt war.
Anne Lampen ist bekannt für architektonisch anspruchsvolle wie funktionale Wohn- und Geschäftshäuser. Die für ihre Entwürfe vielfach ausgezeichnete Baukünstlerin plant auch immer wieder für soziale Projekte und gemeinwohlorientierte Organisationen. Für degewo hat sie im Gesundbrunnen ein Haus geplant, in dem sieben soziale Träger betreutes Wohnen, Schulungen und Kinderbetreuung anbieten – und das Vorbildcharakter nicht nur für Neubauvorhaben von degewo hat.
stadtleben | degewo feiert in diesem Jahr 100-jähriges Bestehen. Was hat sich geändert, soweit es die Ansprüche an Architektur im sozialen Bereich betrifft, was gilt heute noch?
Man muss Bauen im zeitlichen Kontext betrachten. Der soziale Wohnungsbau begann in den 1920er-Jahren mit aus der Wohnraumnot geborenen Projekten wie der Krugpfuhlsiedlung in Britz – kleinen Siedlungshäusern mit viel Grün. Das war damals innovativer Wohnungsbau für Menschen aus breiteren gesellschaftlichen Schichten. Aber natürlich würden wir heute so nicht mehr bauen, schon aus Gründen der Energieeffizienz nicht. Die Häuser sind zudem für heutige Verhältnisse kleinteilig und in ihrer Struktur auf eine Kernfamilie festgelegt. Dennoch bieten sie bis heute Wohnraum, der sehr gefragt ist.
stadtleben | Das mit der Nachfrage galt lange nicht für die Großsiedlungen in Berlin wie Gropiusstadt oder Marzahn-Hellersdorf, die ja auch hundert Jahre degewo-Geschichte abbilden …
Aber auch die sind heute zu großen Teilen gut saniert, sozial aufgewertet, und sie haben ein viel besseres Image als noch vor zwanzig Jahren. Außerdem ist auch hier der zeitliche Bezug zu berücksichtigen: Nach dem Krieg und bis in die späten 1970er-Jahre hinein mussten viele Menschen in sehr kurzer Zeit untergebracht werden. Das führte zwangsläufig zu einer Architektur, die auf Masse setzte. Und auf industrielle Vorfabrikation. Es entstand also die später berüchtigte Platte, weil man auf diese Weise schnell und kostengünstig bauen konnte.
stadtleben | Das hat ja auch erst mal funktioniert.
Ganz genau, es entstand Wohnraum für viele Menschen, und der war mit Heizung und eigenen Badezimmern sogar vergleichsweise luxuriös. Man darf nicht vergessen, dass nicht wenige unsanierte Innenstadtwohnungen noch bis in die 1990er-Jahre Kohleöfen und Toiletten auf halber Treppe hatten.
stadtleben | Aber die Kritik an diesen Großwohnsiedlungen können Sie schon verstehen?
Aber ja. Auch wenn ich als Architektin die Wohntürme mit ihren tollen Grundrissen sehe und ihre Modellhaftigkeit für das heutige Bauen anerkenne. Aber es gab in diesen Siedlungen lange gar keine soziale Infrastruktur, keine Maßstäblichkeit und keine Anknüpfungspunkte für die Menschen.
stadtleben | Sie haben für degewo den Neubau Gotenburger Straße geplant - ein zukunftsweisendes Modellprojekt in Sachen betreutes Wohnen und in enger Kooperation mit verschiedenen sozialen Trägern errichtet. Was ist das Besondere an diesem Projekt?
Zunächst war es rein stadtplanerisch interessant, da es sich um ein unbebautes Eckgrundstück handelt, eine richtige Brache, und das mitten in der Stadt. Die konnte man planerisch gut nutzen, auch wenn es durch den angrenzenden Backsteinbau der Wilhelm-Hauff-Schule aus Denkmalschutzgründen Auflagen gab, was zum Beispiel die Höhe angeht.
stadtleben | Gab es noch weitere Herausforderungen?
Keine, die nicht zu lösen gewesen wären. Aber wir haben hier von Beginn an um jeden Quadratmeter gekämpft, gerade weil es um soziale Räume geht – und für die wollten wir nichts verschenken. Trotzdem sollte das Gebäude etwas Elegantes und Leichtes haben.
stadtleben | Wie haben Sie als Architektin das baulich gelöst?
Die Fassade springt zum Beispiel oben ein wenig zurück, das nimmt schon mal das Blockhafte. Und um das Grundstück optimal auszunutzen, haben wir auf eine Feuerwehrdurchfahrt verzichtet, weil das wahnsinnig viele Quadratmeter gekostet hätte. Sie hätte zudem noch mehr von der Freifläche weggenommen, die wir im Hof dringend brauchen, weil das Haus ja auch eine Kita mit 63 Plätzen beherbergt. Also haben wir aus Sicherheitsgründen eine Mittelgangerschließung gemacht, die auch als Fluchtweg für alle dient. So etwas ist aber unbeliebt, weil es an Krankenhäuser erinnert. Das wäre hier auch so gewesen, da links und rechts davon kleine Einheiten etwa für betreutes Wohnen liegen. Wir haben den Gang konisch zulaufen lassen, weil er dann optisch verkürzt und interessanter wirkt. Und die wichtigste Maßnahme: Wir haben daher die langen Gänge, wo immer möglich, durch verglaste Gemeinschaftsräume unterbrochen, denn dadurch fällt Licht in die Flure.
stadtleben | Waren alle immer mit Ihren Entwürfen einverstanden?
Das ist das eigentlich Besondere an dem Haus: Wir haben hier von Anfang an mit allen sieben Trägern der beteiligten sozialen Projekte zusammengearbeitet …
stadtleben | … was nach sehr viel Abstimmung klingt.
Allerdings! Wir mussten festlegen, welches Projekt wie viel Raum bekommt, und wie wir das im Haus aufteilen und verorten, damit zum Beispiel alleinerziehende Mütter mit Kleinkindern nicht neben Menschen mit Suchtproblemen wohnen. Nicht zuletzt musste bei der Planung mitgedacht werden, dass die Einheiten flexibel gebaut werden, damit man sie bei Bedarf neu zusammenlegen oder wieder trennen kann. Und schließlich muss heute natürlich möglichst energieeffizient gebaut und später auch gewohnt werden.
stadtleben | Und das alles hat funktioniert?
Ja! Das ist das Tolle und, wie ich glaube, auch das Einzigartige an diesem Projekt. Weil alle in diesem Prozess fair miteinander umgegangen sind. Und weil degewo mit ihrer großen Expertise im bezahlbaren Wohnungsbau alle Schritte immer offen begleitet hat. Das gilt nicht nur für die Kernkompetenz des Unternehmens, was die Umsetzung angeht, sondern zum Beispiel auch für den Dialog mit den Behörden. Trotzdem war es auch für degewo ein Wagnis, ein so großes Projekt partizipativ mit so vielen Beteiligten zu stemmen.
Wir gestalten Berlin
Im Rahmen verschiedener Modellprojekte trägt degewo zu mehr bezahlbarem, sozialem Wohnraum in Berlin bei und setzt damit ein Zeichen für Integration und Toleranz. Alle Informationen zu Neubauvorhaben und Projekten finden Sie hier:
stadtleben | Was können Sie heute als Architektin tun, um bei Neubauprojekten die zuvor erwähnten Anknüpfungspunkte für die Bewohner sicherzustellen?
Wir nehmen die Menschen, die darin wohnen werden, von Anfang an in den Fokus. Menschen wollen sich orientieren können, sie wollen ankommen und Kontakte schließen können. Wenn ich zum Beispiel einen riesigen Komplex habe mit einem bedrückend kleinen Eingangsbereich, dann schafft das mulmige Gefühle. Ebenso lange, dunkle Flure, Stichwort Angsträume. Es hilft immer, Licht hineinzulassen, wie degewo es auch bei den Sanierungen der alten Bestände umsetzt. Generell glaube ich, dass gut geplante Räume immer ein Gefühl von Wertschätzung schaffen. Das macht etwas mit Menschen, gerade mit sozial Schwächeren, wenn auch ihnen gute Architektur zugestanden wird.
stadtleben | Was wiederum zu der zentralen Frage zurückführt, für wen man baut?
Ja, genau. Im Gegensatz zu früher kann man und will man heute nicht mehr bauen, ohne sich mit den späteren Nutzerinnen und Nutzern zu beschäftigen. Das hat degewo in unserem Projekt von Anfang an super gemacht, und ich finde es toll, wie wir das zusammen hinbekommen haben.