Sind Sie bereit für einen kleinen Ausflug? Stadtnatur-Ranger und Ornithologe Toni Becker lädt Sie ein, die Berliner Vogelwelt zu erkunden. Im degewo-Interview verrät er, welche vermeintlichen Hilfsangebote Vögeln schaden, wie man ihnen wirklich etwas Gutes tun kann – und welches gefiederte Geschöpf sein Lieblingsvogel ist.
Kreischende Vögel mit sichelförmigen Flügeln zischen über die Rummelsburger Bucht. „Da sind wieder die Mauersegler“, sagt Toni Becker gen Himmel. Wir treffen den Vogelflüsterer an einem sonnigen Sommertag außerhalb seines Reviers. Das ist eigentlich in Marzahn-Hellersdorf, wo viele degewo-Mieterinnen und -Mieter zu Hause sind. In Friedrichshain-Kreuzberg ist Herr Becker nicht mehr tätig, doch er ist gerne ab und zu hier, am Wasser, bei den Vögeln.
Ornithologe, Gutachter, Stadtnatur-Ranger: Toni Becker
Toni Becker ist im Nebenberuf freischaffender Ornithologe und faunistischer Gutachter, er beschäftigt sich also mit der Vogelkunde und dem Erstellen von artenschutzfachlichen Gutachten. Wer beispielsweise ein Haus (um)bauen will und ein faunistisches Fachgutachten braucht, wendet sich an Herrn Becker. Der schaut dann nach, ob Brutvögel, Fledermäuse, Eidechsen und andere Tiere das Bauvorhaben genauso gut finden wie der Mensch. Als Stadtnatur-Ranger der Stiftung Naturschutz Berlin zeigt er den Großstädterinnen und -städtern im Hauptberuf außerdem die Schönheit unserer Stadtnatur und klärt über das richtige Verhalten in ihr auf – „für die Umwelt ein gutes Wort einlegen“, wie er es ausdrückt. Aufmerksame degewo-Blog-Lesenden könnten Herrn Becker noch vom Projekt „Kreuzberg baut für wilde Tiere“ kennen. Dort unterstützte er die jungen Forscherinnen und Forscher des Kinderlabors Curioso beim Bau von Igelhotels und Nistkästen für Vögel und Fledermäuse. Heute besuchen wir Herrn Becker jedoch in anderer Mission.
Natur liegt uns am Herzen
Deshalb fördern wir Einrichtungen wie das Kinderlabor Curioso. Dort lernen, experimentieren und entdecken schon die Kleinsten und erkunden spielerisch die Stadtnatur.
Berlins Vogelwelt: Vielfältiger, als man denkt
Wir wollen von Toni Becker wissen, was die Berliner Vogelwelt zu bieten hat. Als Ur-Berliner, der schon von Kindestagen an Interesse an der Ornithologie hat, kennt er sich bestens aus. „Die Vogelwelt in der Stadt macht mir gar nicht so viel Sorgen“, sagt Herr Becker. Rotkehlchen, Spatzen, Waldkäuze, Neuntöter, Nachtigallen, Mauersegler, Zilpzalp, sogar Kraniche sind hier heimisch. Und das sind nur einige der Berliner Vogelarten. „Die Vögel passen sich wunderbar ein in diese ganzen kleinen ökologischen Nischen.“ Als Beispiel nennt er die Rauchschwalbe, die auch hier in der Rummelsburger Bucht nah an der Wasseroberfläche vorbeisaust und immer wieder unter dem Steg verschwindet, auf dem wir stehen. „Früher haben die im Pferdestall gebrütet, und diese hier hat nun anscheinend den Platz unterm Steg für sich entdeckt.“ Die Vögel in der Stadt sind erfinderisch und anpassungsfähig.
„Mir machen eher die Vögel auf dem Land Sorgen“
Problematisch wird es dort, wo sich die Vögel nicht so einfach anpassen können, auf dem Land, wo viele Vogelarten normalerweise auf dem Feld brüten: „Früher bin ich aus der Stadt rausgefahren und auf den Wiesen standen Kiebitze. Dieses Bild gibt es so heute nicht mehr“, gibt Herr Becker zu bedenken. „Einige Vogelarten lohnt es gar nicht mehr den Kindern beizubringen, weil sie so selten geworden sind, die Schafstelze beispielsweise. In der Stadt haben wir die Bachstelze, der geht es wunderbar. Die ist Gebäudebrüter, der ist es egal, wie viel Autos fahren. Die Schafstelze – der Name verrät es schon – war vor allem dort, wo früher Schafe oder andere Tiere auf der Weide standen.“ Die von den Biorasenmähern bei ihrer Futtersuche aufgescheuchten Insekten sind für die Schafstelze ein gefundenes Fressen. Mit dem Niedergang der extensiven Landwirtschaft wird auch der Lebensraum der Schafstelze immer kleiner.
Der Artenschutz in Berlin bewahrt die Vogelvielfalt
Er ist einer der häufigsten gefiederten Einwohner unserer Stadt: Während in anderen Großstädten der Haussperling selten geworden ist, vergnügen sich die frechen Spatzen in Berlin an jeder Ecke. „In Berlin gibt es einen guten Vollzug des gesetzlichen Artenschutzes. Das Gesetz verpflichtet, alte Häuser nicht einfach niederzureißen, sondern Ersatz zu schaffen, zum Beispiel durch Nistkästen. Wenn man durch Neubaugebiete geht, kann man das sehen. Da sind in den Fassaden ganz dezent Vogelniststätten eingemauert. Das ist auch ein Grund, warum Berlin so gut dasteht mit den Spatzen“, weiß Toni Becker zu berichten. Im benachbarten Brandenburg ist es durch intensive Landwirtschaft und Monokulturen schlechter um die Artenvielfalt bestellt als in der Stadt. Doch auch in den Ballungsräumen lauert eine Bedrohung: die vermeintliche Hilfsbereitschaft der Menschen.
Die drei Dont’s: Nicht füttern, nicht bedrängen, keine Jungvögel einsammeln
„Jeder Bürger liest irgendwann mal, dass es mit der Natur abwärts geht, und jeder zieht seine eigenen Schlüsse. Ich hatte hier gerade einen älteren Herrn, der füttert seit 30 Jahren hier die Enten. Der weiß ganz genau, dass es nicht gut ist. Das ist für ihn eine Entspannung, aber für die Natur ist es schädlich“, mahnt Toni Becker. „Viele Menschen werden mit dem Irrglauben groß, dass man die Tierwelt retten kann, wenn man sie nur häufig genug füttert. Dieser Mythos ist ein Hauptthema in meiner Arbeit.“ Wer den Vögeln etwas Gutes tun will, sollte ihnen vor allem eines geben: Freiraum. „Vögel brauchen Freiraum, um in Ruhe brüten zu können. Sie brauchen Räume, wohin sich die Jungvögel geschützt zurückziehen können, wo die Hauskatze sie nicht erwischt. Und vor allem brauchen sie Schutz vor den tierlieben Bürgern, die während der Brut- und Aufzuchtzeit zu voreilig die Jungvögel einsammeln, die soeben das Nest verlassen haben.“ Dabei handelt es sich um sogenannte Ästlinge, die nicht sofort beim ersten Versuch fliegen lernen. Auch wenn sie scheinbar hilflos auf dem Boden unterwegs sind und laut tschiepen: Sie brauchen keine Hilfe, ihre Eltern sind in der Nähe versorgen sie auch dort. Toni Beckers dringende Bitte ist, dass man sie nicht einsammelt und nicht mit nach Hause nimmt oder bei Tierschutzvereinen abgibt. Nur wenn ein Vogel offensichtlich in Gefahr ist, weil er etwa auf der Fahrbahn liegt, sollte man beherzt zugreifen – und ihn ins nächste Gebüsch oder auf einen niedrigen Baum setzen. Vogelkinder werden von Ihren Eltern übrigens nicht verstoßen, weil sie womöglich nach Mensch riechen.
Wie kann man Stadtvögeln richtig helfen?
„Natürlich haben wir alle ein schlechtes Gewissen. Wir wissen, unsere Vorfahren haben unheimlich viel Mist angerichtet, und jetzt haben wir auch noch den erkennbaren Klimawandel. In vielen Menschen erweckt das den Wunsch, dann doch wenigstens die Vögel oder auch die Insekten zu retten“, sagt Toni Becker. Dabei gehe aber einiges schief: Falsch gefertigte Insektenhotels verstümmeln die Flügel der Bienen, Kunststoffgebinde leergefressener Meisenknödel können zur Todesfalle für die gefiederten Stadtbewohner werden. Gibt es denn irgendetwas, das man guten Gewissens für die Vogelwelt tun kann? „Eine Vogeltränke ist immer eine gute Idee“, regt Herr Becker an, um dann ein lang gezogenes „Aber“ nachzuschieben: „Man übernimmt damit natürlich Verantwortung.“
Vogeltränken nur aufstellen, wenn man sich um sie kümmern kann
„Wenn man eine Trinkstelle für Vögel anbietet, hat man auch die Verantwortung, sie von Bakterien und Keimen freizuhalten. Denn wenn eine Vogeltränke gut angenommen wird, treffen sich dort tausende Individuen, die sich normalerweise in der Natur immer aus dem Weg gehen würden. Also muss man diese Tränke auch reinigen.“ Herr Becker empfiehlt denjenigen, die über die Anschaffung einer Trinkschale nachdenken, gleich eine zweite zu holen: „Wenn eine leer ist, kann man sie in die Sonne stellen, dann sind Algen und Keime weg, denn die Sonnenstrahlung ist der beste Hygieneinspektor.“
Die schönste Form der Vogelfreundschaft: Stilles beobachten
„Ich empfehle Vogelfreunden vor allem eins, sich ein bisschen Zeit zu nehmen. Sich hinzusetzen und die Vögel einfach zu beobachten, nicht zu füttern. Ich bin am Wasser aufgewachsen, an der Spree, für mich ist jegliches Ufer spannend, um Vögel zu beobachten. Aber das kann man auf jeder Parkbank, auf der Wiese, an der Haltestelle, auf dem Bahnhof“, regt Toni Becker an. Besonders spektakuläre Szenen spielen sich in der Balzzeit ab, wenn das große Umwerben beginnt. Die Männchen geben alles, um Weibchen anzulocken. Oft beginnt dieses Schauspiel schon im Winter und Vorfrühling. Dann heißt es warm anziehen, wenn es in die Natur zum Vogelbeobachten geht.
Eine Frage zum Schluss, Herr Becker: Haben Sie einen Lieblingsvogel?
Die Antwort auf die Frage nach seinem Lieblingsvogel kommt prompt: „Ich habe 14-jährig als Artenschützer in einem Hilfsprogramm angefangen, das ist jetzt über 30 Jahre alt. Der Vogel ist in Berlin nur am Stadtrand verbreitet. Es ist eine kleine Möwe, die wegen ihres grazilen Körperbaus Schwalbe heißt, die Trauerseeschwalbe.“ Die Vogelart gilt bei uns als gefährdet. Mit neun Jahren hat Herr Becker das erste Exemplar bewusst gesehen. Das Besondere: Trauerseeschwalben bauen ihre Nester auf Schwimmpflanzen im Wasser. „Das ist gefährlich, weil es immer weniger von diesen Wasserpflanzen gibt, die Eier fallen vom Wellenschlag der Motoren ins Wasser und die Bestände schrumpfen. Ich übernahm von Kollegen damals die Idee, kleine Flöße als Bruthilfen anzulegen. Die dürfen nicht zu groß sein, damit kein Milan oder Reiher darauf landet, und die Bruthilfen müssen auch immer betreut werden. Aber die Arbeit lohnt sich, die Trauerseeschwalbe ist auf jeden Fall mein Liebling. Wenn ich Ende April, Anfang Mai am Wasser sitze und die ersten vertrauten Rufe höre, dann weiß ich, jetzt fängt der Frühling an. Das ist schon eine innige Beziehung.“ Hier an der Rummelsburger Bucht sieht er die Trauerseeschwalbe nicht, aber er nimmt sich für sie die Zeit, auch mal etwas weiter rauszufahren. „Sagen wir mal so, wir fühlen uns verbunden“, lächelt der Stadtnatur-Ranger.